Von Lucian Haas
Ein Phantom ist entdeckt. Ein Jahrhundert
lang
waren Mediziner und Biologen dem Juckreiz auf der Spur. Oder besser
gesagt: Sie suchten jene Nervenfasern im Körper, die dieses Gefühl
eines unerträglichen Kribbelns und Krabbelns auf der Haut übermitteln.
Lange blieben sie ihnen verborgen, weshalb sich die Forscher bereits
mit anderen Theorien über die Pfade des Juckens von der Haut zum Hirn
zu trösten versuchten.
Der "kleine Bruder des
Schmerzes" sollte das Jucken sein, eine unterschwellige Reizung der
Nervenfasern, die für Schmerzempfindungen zuständig sind. Aber nix da:
Amerikanische Wissenschafler vom Barrow Neurological Institute in
Phoenix, Arizona, stießen jüngst im Rückenmark von Katzen auf einzelne
Nervenstränge, die ganz spezifisch nur Juckreize aus dem
Zentralnervensystem ins Zwischenhirn weiterleiten (Quelle:
Neuroscience, Vol. 4 Nr. 1, S. 9 und S. 72). Damit
lieferten sie den
Beweis, dass das Jucken tatsächlich eine eigenständige Empfindung mit
durchgängigen Reizleitungen ist.
Vier Jahre zuvor
hatte Martin Schmelz, Physiologe an der Uni Nürnberg-Erlangen, in der
Haut von Menschen bereits Nervenenden gefunden, die offenbar allein für
Juckreize empfänglich sind. Jetzt also steht die Verbindung bis ins
Hirn.
Millionen von Kratz-Geplagten können dank
dieser Erkenntnis auf neue Behandlungsmöglichkeiten ihrer Leiden
hoffen. Denn je genauer die Wege des Juckens im Körper bekannt sind,
desto besser lassen sich auch dessen Ursachen erforschen. Das gilt
nicht nur für Mückenstiche. Hautkrankheiten wie Neurodermitis, aber
auch innere Leiden wie Leberversagen, Nierenschwäche, Diabetes oder
Aids sind häufig mit furchtbarem Hautjucken verbunden. Manche Menschen
spüren sogar einen "Pruritus sine materia", wie Ärzte einen scheinbar
grundlosen Juckreiz nennen. All dem kann jetzt besser auf den Nerv
gefühlt werden.
Dass die Jucknerven so lange
unentdeckt blieben, zeigt, mit welchen Schwierigkeiten die moderne
Forschung selbst heute noch zu kämpfen hat, wenn sie die Geheimnisse
des Lebens zu lüften sucht. Mal ist es die Technik, mal das Leben
selbst, das dem Wissensdrang Grenzen zieht, wie ein Blick in die
Geschichte der Juck- und Schmerzforschung offenbart.
Ende
des 19. Jahrhunderts wurde erstmals ein eigenes System für das
Schmerzempfinden im Körper postuliert. Juck- und Schmerz-Nerven gehören
fast ausnahmslos zu den so genannten C-Fasern, durch die nur schwache
elektrische Ströme fließen. Ein Nachweis des
Stromflusses in C-Fasern gelang allerdings erst 1933.
Danach
dauerte es 25 Jahre, bis der schottische Physiologe Ainsley Iggo 1958
an einer Katze die Leitungsgeschwindigkeit von C-Fasern exakt bestimmen
konnte. Erst zu diesem Zeitpunkt war die elektrische Verstärkertechnik
so weit fortgeschritten, dass die kleinen Stromstöße der Nerven
überhaupt aus dem Hintergrundrauschen der Messanordnung klar
herauszulesen waren.
Der Marburger Arzt Herbert
Hensel war der Erste, der Schmerz-Impulse aus Nerven des Menschen
ableitete. Freilich gelang ihm das nur operativ, in dem er Patienten
unter Narkose die Haut aufschnitt, darin liegende Nervenstränge
durchtrennte und die losen Enden an seine Mess-Instrumente koppelte.
Das war im Jahr 1960. Aus heutiger Sicht wirkt dieses Experiment etwas
makaber, nahm Hensel für den Erkenntnisgewinn doch durchaus mögliche
Schäden seiner Probanden in Kauf. Nachahmer fand er - aus
verständlichen Gründen - nicht.
Weniger
zerstörerische Forschung ermöglichte erst die Technik der
Mikro-Neurographie, die der Schwede Erik Torebjörk 1970 entwickelte. Er
baute super-dünne Elektroden, mit denen sich Nerven direkt durch die
Haut anpieksen und somit die dort fließenden Ströme ableiten lassen.
Dieses Verfahren ist auch heute noch Stand der Technik, wenngleich
etwas verfeinert. Mit ihm lässt sich messen, wie bestimmte C-Fasern
Druck, Hitze oder Kälte, die auf die Haut einwirken, in elektrische
Signale des Schmerzes umsetzen. Nur das Jucken blieb diesem System
lange Zeit verborgen.
Die Erklärung dafür ist im
Rückblick so einfach wie verblüffend. Jucknerven sind - so weiß man
heute - normalerweise stumm. Ohne einen spezifischen, chemischen Reiz
fließt dort kein Strom. Wenn nun ein Forscher auf der Suche nach einer
Nervenfaser mit einer Elektrode die Haut durchsticht und einen Jucknerv
trifft, findet er, anders als bei Schmerznerven, in der Regel kein
Signal, dass ihm zeigt: "Ich bin drin." Er bleibt also blind für diese
Faser und stochert weiter.
Beheben lässt sich dieses
Manko, in dem der Forscher mit zwei Elektroden arbeitet, um selber
Strom in einen Nerven leiten und wieder ableiten zu können. Dafür setzt
er beispielsweise eine spitze Elektrode in einen Nervenstrang unterhalb
des Knies und reizt mit einer flachen Elektrode die empfindsamen
Nervenenden in der Haut am Knöchel. Allerdings erweisen sich die
Jucknerven auch hierbei als widerspenstig. Während Schmerznerven schon
bei Stromstärken von zwei Milli-Ampere reagieren, geben die Juckfasern
erst bei etwa 30 bis 60 Milli-Ampere ihre Leitung frei. Einem Menschen,
der sich für einen Versuch zur Verfügung stellt, kann solch ein Strom
aber schon deutliche Schmerzen verursachen. Die Wissenschaft ist darum
auf schmerzunempfindliche Kandidaten angewiesen, die nicht so leicht zu
finden sind. "Wenn jemand gequält wird, ist er nicht mehr motiviert,"
sagt Juckreizforscher Schmelz lakonisch.
Der Schmerz
macht der Juckforschung auch sonst das Leben schwer: Wer Schmerzen hat,
den juckt's nicht mehr. Hingegen spüren Schmerzpatienten, denen zur
Linderung ihrer Leiden Opiate verabreicht werden, gelegentlich ein
intensives Jucken, wenn die Schmerzen nachlassen. In früheren
Denkmodellen galt dies als Beweis dafür, dass das Jucken nur eine
sublime Vorstufe des Schmerzes ist. Da der Juckreiz aber laut den neuen
Erkenntnissen seine eigenen Bahnen besitzt, muss dieser Effekt anders
erklärt werden. Offenbar ist es so, dass die Juck-Signale bei der
weiteren Verarbeitung durch die Schmerz-Signale überlagert werden.
Wie
es dazu kommt, ist noch vollkommen unklar. Aber das Ergebnis könnte man
sich dennoch zu Nutze machen. Menschen, die an chronischem Juckreiz
leiden, eine leichte medikamentöse Reizung der Schmerznerven
Erleichterung verschaffen. Bislang ist eine solche Behandlung blanke
Theorie, doch hier liegt eine der interessanten neuen Fronten, denen
sich die Juckforscher widmen können.
Ungeklärt ist
immer noch die Frage, wie und wo die Juckreize verarbeitet werden, wenn
sie ins Gehirn gelangen. Erste Anhaltspunkte geben Untersuchungen von
Ulf Darsow, Dermatologe an der Technischen Universität München. Er
untersuchte die Hirnaktivität von Patienten, die an juckenden
Hautausschlägen leiden, mit einem so genannten
Positron-Emmissions-Tomografen (PET). Dabei werden den Patienten
schwach radioaktive Stoffe gespritzt, die sich an besonders regen
Stellen im Hirn anreichern. Über die Messung der radioaktiven
Strahlungsdichte liefert der PET ein Abbild der aktiven und weniger
aktiven Hirnregionen. Bei den Juck-Geplagten zeigte sich, dass der
Juckreiz im Gegensatz zum Schmerz offenbar auch das motorische Zentrum
im Gehirn anspricht. Berechtigterweise, so scheint es demnach, werden
im Volksmund die Worte Jucken und Kratzen häufig synonym verwendet.
Zu
guter Letzt steht auch immer die Erklärung aus, wie überhaupt das
Jucken entsteht. Bislang weiß man, dass die Jucknerven durch Histamin
gereizt werden. Dieser Stoff ist beispielsweise im Speichel von Mücken
enthalten, weshalb deren Stich zum Kratzen verleitet. Histamin kann
auch auf allergene Reize hin von so genannten Mastzellen in der Haut
ausgeschüttet werden. Dies ist der Grund, warum es beim Heuschnupfen in
der Nase juckt. Allerdings reicht bei vielen Menschen die Gabe von
Anti-Histaminika nicht aus, um das Jucken zu stoppen. Demnach muss es
also weitere Stoffe geben, die das Jucken auslösen. Doch auf diesem
Feld kratzt auch die Forschung bislang nur an der Oberfläche. +++
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